Körperwelten: das NTM Tanz

corpus, ama!

Der menschliche Körper im Tanz: er dechiffriert, offenbart und verklausuliert. Transformiert eine Idee in Form, Bewegung und Emotion und ist dabei Bühne und Leinwand zugleich. Stephan Thoss, Intendant für Tanz am NTM, und sein Ensemble verwandeln in „Poem an Minotaurus / Le Sacre du Printemps“ zwei Choreografien in eine Körperwelt. Es ist das erste Orchesterstück für das NTM Tanzensemble seit zwei Jahren – und ein Rendezvous zweier Meister ihres Fachs im neuen Mannheimer Opal.

Text: Jan Zeller
Foto: Marina Terechov

Foto: Marina Terechov

Er ist ein Schlüsselmotiv in zahlreichen Werken Pablo Picassos, der Minotaurus. Jenes Wesen aus der griechischen Mythologie mit dem Körper eines Menschen und den Kopf eines Stieres, dessen monströser Gestalt sich der Spanier ab den späten 1920er Jahren in zahlreichen Radierungen zu widmen begann. Oder vielmehr: Picasso begab sich auf eine künstlerische wie persönliche Suche nach der Immanenz des menschlichen Wesens. Sie sollte 1937 im Schrecken und der zerstörerischen Wut seines tragischen Meisterwerks Guernica ihren Höhepunkt finden. Poem an Minotaurus, könne, so Stephan Thoss, weniger „als Analyse des Minotaurus-Mythos, sondern als ein assoziatives Gedicht“ verstanden werden. Tatsächlich reizte den gebürtigen Leipziger, der seit der Spielzeit 2016/17 am Nationaltheater Mannheim wirkt, an dem antiken Mischwesen vor allem dessen Beschaffenheit. In gewisser Weise sei es eine „Mensch-Maschine“ – und für Thoss die kontextuale Brücke zu seiner Musik-Auswahl, einer Kombination aus zeitgenössischen Kompositionen von John Adams und Igor Strawinskys „Sacre“. Thoss dient sie als musikalischer Tanzboden für seine choreografierten Körperwelten.

Er wählte ganz bewusst die dritte der drei großen Ballettmusiken für großes Orchester aus der Feder des damals gerade mal 30-jährigen Komponisten und Dirigenten – nach Der Feuervogel und Petruschka. Die neuartige Rhythmik, die Dissonanzen und scharfen musikalischen Einwürfe in Le sacre du printemps (dt.: Die Frühlingsweihe) verstörten im Mai 1913 das Pariser Premierenpublikum. Für Thoss aber ist Strawinskys kompositorische Radikalität, die viele seiner damaligen Zeitgenossen überforderte, vielmehr bereits ein Fingerzeig auf das Zeitalter der Industrie und dessen Folgen. Rhythmus schlägt Melodie, in einer Phase der intensivierten Mechanisierung, maschinellen Massenproduktion und einem politisch instabilen Europa der Rüstungsgüter. Der Beginn des Ersten Weltkrieges 1914, Guernica – die „Mensch-Maschine“ wütete.

Foto: Marina Terechov

Doch so sehr Thoss dann auch sein Tanzensemble in den besonders kraftvollen Passagen des Orchesters vorwärtstreibt und eine imposante Gesamtkörperlichkeit einfordert, so sehr differenziert er dann wieder in anderen Momenten akribisch bis hin zur Zuordnung einzelner Körperteile zu einzelnen Instrumenten. „Ob ein Ton nach oben oder nach unten geht, ob er kollabiert in seiner Geschwindigkeit, sich ausdehnt oder zusammenzieht – all das gehört beachtet“, beschreibt er diesen Prozess des choreografischen Sezierens von Körpern und Körperlichkeit.

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