Fokus

krieg und zirkus

Leidtragende des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sind auch Artist*innen. Wie das Radio Regenbogen Harald Wohlfahrt Palazzo und die Mannheimer Runde zwei preisgekrönten Künstlern und ihren Familien ein Leben in Sicherheit ermöglicht haben.

Text: Ute Maag

In der Nacht, in der Russland die Ukraine überfiel, stand Oleksii Grygorov am Fenster seiner Wohnung in Kiew und schaute hinaus. Der Lärm von Detonationen hatte ihn geweckt. Sein erster Gedanke: Es muss was am Flughafen passiert sein! Als er in der langsam anbrechenden Morgendämmerung des 24. Februar 2022 den Widerschein von Feuer am Himmel sah, schaltete er den Fernseher ein und nur Augenblicke später war er sicher: Die lauten Schläge, die er hörte, die Erschütterungen, die er spürte, das waren Bomben. Es war Krieg. In seiner Heimat, in seiner Stadt. Direkt vor seinem Fenster.

Foto: Silviane Brauer
Foto: Silviane Brauer

Ein Zeichen gegen die Machtlosigkeit

Sein Bruder Dmitriy, den alle nur Dima nennen, schlief zu dieser Zeit noch, rund 2.000 Kilometer entfernt von der ukrainischen Hauptstadt. Am Abend zuvor war der Artist im Radio Regenbogen Harald Wohlfahrt Palazzo in Mannheim aufgetreten. In aller Herrgottsfrühe klingelte das Telefon. Seine Schwägerin Olesia Shulga rief aus Italien an: Er solle sofort aufstehen und versuchen, die Familie in der Ukraine zu erreichen. Es sei Krieg. „Wir waren völlig schockiert“, erinnert sich Dima Grygorov an die folgenden Stunden, in denen er und seine Frau Alla sich Gewissheit verschafften, dass ihre Lieben am Leben waren. Und in denen sich alle Gedanken zu einer Frage verdichteten: Was können wir tun, um ihnen zu helfen? An einem Nachmittag gut eineinhalb Jahre später sitzen die beiden Brüder gemeinsam mit Palazzo-Produzent Rolf Balschbach im Spiegelzelt und erzählen, wie es ihnen seit jenem Tag ergangen ist. Dass sie nun beide bis auf weiteres mit ihren Familien in Mannheim leben, hat viel mit Balschbach und dem Palazzo-Netzwerk zu tun. Noch am ersten Kriegstag hatte er sowohl den ukrainischen als auch den russischen Artist*innen im Ensemble Unterstützung zugesichert, denn: „Bei Palazzo haben Nationalitäten noch nie eine Rolle gespielt. Auch die russischen Artisten sind Leidtragende dieses Krieges. Da war keiner, der Putins Angriff gutgeheißen hätte. Im Gegenteil: Alle waren entsetzt.“ Dima Grygorov und seine Partnerin Anastasia Vashchenko entschlossen sich damals, ihrem Gefühl der Machtlosigkeit ein Zeichen entgegenzusetzen: Beim Finale der Show trugen sie unter dem Applaus des Publikums eine russische und eine ukrainische Flagge durchs Spiegelzelt und machten damit öffentlich, was kaum jemand wusste, weil es bis dahin keine Rolle gespielt hatte: Vashchenko ist russische Staatsbürgerin. „Das war so emotional für uns, wir haben sehr geweint“, erinnert sich der Gewinner des Goldenen Clowns von Monte Carlo 2009, des Oscars der Zirkuswelt. Dass sich die Wege des Duos inzwischen getrennt haben, hat nichts mit dem Krieg zu tun, sondern mit der Liebe: Anastasia Vashchenko lebt mit ihrem Partner, dem Skating-Artisten Leo Jackson, mittlerweile in Spanien.

Rolf Balschbach fand das Flaggen-Statement der beiden „grandios, denn es hat die ganze Absurdität und Sinnlosigkeit dieses Krieges gezeigt“. Er hat aber großes Verständnis für alle Artist*innen, die ihre Haltung lieber für sich behalten: „Da sehe ich mich auch als Beschützer. Die Sorge, dass russische Künstler oder ihre Angehörigen Repressalien befürchten müssen, wenn sie sich gegen den Krieg oder gegen Putin positionieren, ist sicher berechtigt.“ Dima Grygorov bestätigt das: „Ich habe russische Freunde, die den Kontakt zu mir nach Kriegsbeginn abgebrochen haben. Vermutlich, weil sie Angst haben.“ Nach drei Palazzo-Spielzeiten 2010, 2016 und 2021 fühlt sich der Strapatenkünstler mit Mannheim verbunden und schätzt die Hilfe, die er hier erhalten hat: „Dafür bin ich unendlich dankbar.“ Eine besondere Rolle spiele Rolf Balschbach, bekennt er: „Jeder, der bei Palazzo arbeitet, weiß: Wenn du Hunger hast, gehst du in die Küche.

Foto: Silviane Brauer
Foto: Privat

Wenn du ein Problem hast, gehst du zu Rolf.“ Gemeinsam gelang es, Familienmitglieder aus der Ukraine nach Deutschland zu holen: Der Bruder und seine Familie, die Schwiegermutter, der Schwager und die Schwägerin sind hier. Nur Dimas und Oleksiis Mutter war nicht zu bewegen, das Land zu verlassen. „Sie lebt in der Nähe von Luhansk“, erzählt der ältere Sohn. „Das Gebiet ist schon seit 2014 von den Russen besetzt. Sie will trotzdem nicht weg.“ Immerhin gehe es ihr gut, die Situation im Donbass sei derzeit ruhig. Hilfe kam auch von der Mannheimer Runde. Im vergangenen Frühjahr hatte das Unternehmens-Netzwerk im Palazzo zu einer Charity-Gala geladen. Russische und ukrainische Artist*innen traten auf und Sänger*innen aus der Region performten John Lennons Friedenshymne „Imagine“. Mehr als 200.000 Euro Spenden kamen zusammen, mit denen Geflüchtete aus der Ukraine unterstützt werden konnten – zur Freude auch der Stadt Mannheim. Als Rolf Balschbach Stefan Kleiber kontaktierte, ließ der sich nicht lange bitten und griff seinerseits zum Telefon. „Zuallererst war es wichtig, eine Unterkunft zu finden. Einige Mitglieder der Mannheimer Runde haben Wohnraum zur Verfügung gestellt, andere die Wohnung eingerichtet. Auch bei der Suche nach Schul- und Kitaplätzen und bei Bürokratiethemen haben wir geholfen“, erzählt der Vorsitzende der Mannheimer Runde und Vorstandchef der Sparkasse Rhein-Neckar-Nord. Seine Motivation: „Ich stelle mir vor, dass ich mich auch freuen würde, wenn ich in derselben Situation wäre und jemand mir hilft. Zudem mag ich diese Menschen.“ Die Wohnung in Neuostheim, die Dima Grygorov mit Kleibers Hilfe fand, sei „toll: groß genug und bezahlbar“, erzählt der Artist, der klarstellt: „Wir arbeiten alle und zahlen unsere Miete selbst.“ Seit Anfang November hat er ein Engagement im Europapark in Rust. Den 18-jährigen Sohn Nikita wissen er und seine Frau Alla derweil wohlbehütet bei der Familie in Mannheim. Auch für Nikita hat der Krieg einiges verändert. Bislang lebte er das typische Leben eines Artistenkindes: immer unterwegs. „Nikita wurde in Japan gezeugt, in Australien geboren und in der Schweiz eingeschult“, zeichnet Dima Grygorov den Weg seines Sohnes scherzhaft nach. Nur eine Konstante gab es: deutschsprachige Schulen, wo immer der Vater auch engagiert war.

Die Zirkusschule in Kiew bleibt offen

Die zweite und sechste Klasse hatte er in Mannheim absolviert, derzeit bereitet er sich an der Merkur Akademie International in Neckarau aufs Abitur im kommenden Sommer vor. „Dass ich drei Schuljahre an einem Ort bleibe, hatte ich noch nie“, sagt er – was nicht heißen solle, dass er dem Krieg etwas Positives abgewinnen könne: „Da ist gar nichts Positives.“ Seine Zukunftspläne liegen außerhalb von Manegen und Showzelten und auch außerhalb der Ukraine, die er fast nur von Urlauben kennt: Er will studieren und später international arbeiten, „aber nicht ständig umherziehen“. Im Palazzo-Zelt sieht man den 18-Jährigen häufig: Er hat einen Schülerjob im Stage Management. Auch seine Cousine Karolina hat sich in Mannheim gut eingelebt. Die Tochter von Oleksii Grygorov und seiner Frau Marina, die in dieser Palazzo-Spielzeit mit ihrer wunderbar poetischen Ring-Akrobatik „The Secret of my Soul“ Teil des Ensembles sind, besucht die zweite Klasse der Mozartschule. Außerdem erhält die Achtjährige Online-Unterricht aus der Ukraine. Ihren Bewegungsdrang lebt die kleine Nachwuchsartistin beim Ballett aus und wenn sie spielerisch mit den Eltern trainiert. So kennt sie das auch von zuhause in Kiew, wo das Paar eine Zirkusschule betreibt. Die war seit Kriegsbeginn keinen Tag geschlossen – aus zwei Gründen.

Foto: Silviane Brauer

„Wir fanden es wichtig, dass die Kinder ein Stück Spaß am Leben behalten. Außerdem ist die Schule ein flacher Bau mit einem Keller“, erklärt Oleksii Grygorov. Der wurde, als in Kiew täglich Luftalarm ausgerufen wurde, zum Schutzbunker für die Nachbarschaft: „Wir haben oft stundenlang dort ausgeharrt. Karolina hat manchmal geweint, weil sie ihre Beine nicht mehr gespürt hat.“ Wie immer, wenn das Duo Grygorov irgendwo in der Welt arbeitet, kümmert sich derzeit ein Vertrauter um die Schule. „Aber die finanzielle Situation der Schule ist nicht einfach“, bekennt der Artist, der mit seiner Familie in einer Wohnung auf dem Luzenberg wohnt und dankbar sagt: „Wir fühlen uns wohl und haben alles, was wir brauchen.“ Für ihn war die Ausreise aus der Ukraine zunächst nicht möglich. Wie alle Männer im wehrfähigen Alter hatte Oleksii Grygorov sich für die Armee bereitzuhalten. Was ihm half, waren Einladungen nach Peru und zum Zirkusfestival von Monte Carlo: „Plötzlich waren Ministerien involviert und Prinzessin Stéphanie von Monaco hat einen Brief geschrieben.“ Damit das Artistenduo am bedeutendsten Wettbewerb der Zirkuswelt teilnehmen und weltweit auf das Leid der ukrainischen Bevölkerung aufmerksam machen konnte, wurde Oleskii Grygorovs Ausreise schließlich von höchster Stelle genehmigt. Noch bevor die Spielzeit in Mannheim begann, hatte er den Auftrag seiner Regierung erfüllt: Mit ihrer „The Secret of my Soul“-Performance gewann das Duo Grygorov beim Zirkusfestival in Monaco den Silbernen Clown. Stéphanie von Monaco gratulierte persönlich. Oleksii Grygorovs Freude über diesen größten Erfolg seiner Karriere ist dennoch ein wenig getrübt. Glücklicher als jede Trophäe würde ihn machen, zurück nach Kiew zu können – in die Zirkusschule und in seine Wohnung. Wenn kein Krieg mehr tobt vor seinem Fenster.

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